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Hätte sich ein Drehbuchautor die Geschichte von Andreas Weidhaas ausgedacht, wäre sie vielleicht als zu klischeehaft abgelehnt worden. Es geht um die Wendezeit, Sex, das große Geld und den Niedergang. Natürlich alles mit stilechten Ost-Requisiten. Es geht aber auch um die Gegenwart, und die Frage: Was erzählen Sexshops auf dem Land, wie ihn Weidhaas noch heute betreibt, eigentlich über den Wandel in den ostdeutschen Bundesländern? Und sind wir heute verklemmter als damals?Wer eine Antwort auf diese Fragen sucht, wird im kleinen Örtchen Oettersdorf im Südosten Thüringens und unweit der Grenze zu Bayern fündig. Hier betreibt Weidhaas seit Mitte 1990 einen Erotikhandel. Gemeinsam mit einem Geschäftspartner richtete er in der Garage seines Elternhauses einen Versand ein, holte sich für 17 Ostmark eine Gewerbeanmeldung und schaltete eine erste Anzeige in der Zeitung.Geldrausch in der AnfangszeitWas folgte, war ein Geldrausch, über den der 64-Jährige noch heute staunt: «Die Leute haben 300, 400, 500 Mark in den Umschlag gelegt und Sachen bestellt. Wir konnten das Geld hier quasi mit der Schubkarre rausfahren.» Die umfassende Sanierung seines Hauses sei danach kein Thema mehr gewesen. «Und das ohne Kredit.»Die Garage sei irgendwann zu klein geworden, der Versandhandel zu aufwendig. Also hätten sie dem Zoll eine inzwischen nicht mehr benötigte Zollstation an der Grenze abgekauft, sie in Einzelteilen im Wartburg nach Hause gefahren und im Garten wieder aufgebaut. So entstand in Oettersdorf der erste stationäre Sexshop. Mit Dessous-Shows in der Gemeindehalle oder Dildo-Präsenten an den Bürgermeister im Festzelt, wie Weidhaas schmunzelnd erzählt.Geschichten wie diese hat Uta Bretschneider vielmals gehört. Die Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig ist in den vergangenen Jahren gemeinsam mit dem Historiker Jens Schöne durch Ostdeutschland gereist und hat Interviews mit Sexshop-Betreibern geführt. Das Ergebnis erschien jüngst als Buch unter dem Titel «Provinzlust».In der DDR seien die Verbreitung von Pornografie und damit auch Sexshops verboten gewesen, erzählt Bretschneider. Mit der Wende kam dann die große Zeit des Ausprobierens: «Da war ganz viel Aufbruch drin.» Die Selbstständigkeit sei endlich machbar gewesen, dazu hätten die Menschen sich das große Geld erhofft. «Die Sachen waren damals wahnsinnig teuer, teils wurden VHS-Kassetten für mehrere Hundert Mark verkauft.»Die Scham war kurz vergessenDie Neugierde habe wohl auch dazu geführt, dass die Menschen ihre Scham ein Stück weit vergaßen. Früher hätten die Leute in den Kisten mit VHS-Kassetten gewühlt, so Bretschneider. Heute werde die Tür hinter den Kunden geschlossen. «Es scheint so zu sein, dass in dieser Aufbruchstimmung das Thema Diskretion etwas außen vor war.»Auch in vielen ländlichen Regionen seien Shops entstanden, in manchen Dörfern gleich zwei oder drei. Eine offizielle Zahl gebe es nicht, in einer Quelle habe sie aber von einst 1800 Geschäften in den ostdeutschen Bundesländern gelesen. Das halte sie für realistisch, so Bretschneider. Heute seien es noch ein paar Dutzend inhabergeführte Läden im Osten.Damit geht es den Sexshops im Osten nicht anders, als anderswo in Deutschland. Zwar gibt es auch bundesweit keine konkreten Zahlen über den Schwund an stationären Geschäften. Aber schon seit Jahren klagen Branchenvertreter über immer weniger Läden und Konkurrenz aus dem Internet: Kostenlose Streamingdienste etwa, die den Erlös mit Pornos schmälern. Oder Onlinehändler wie eis.de, die laut Handelsforschungsinstitut EHI im Jahr 2022 auf Platz 60 der umsatzstärksten Handelsplattformen in Deutschland lagen.Der Niedergang: «Lieber ein Brot als einen Dildo»Und doch steckt im Niedergang vieler Shops in Ostdeutschland zusätzlich ein großes Stück Transformationsgeschichte, wie Bretschneider sagt. Denn nach der kurzen Phase der ungehemmten Neugierde sei schnell die Realität gekommen. Arbeitslosigkeit habe um sich gegriffen, es habe die Zukunftsperspektive gefehlt. «Dann mussten sich die Menschen eben sagen: «Ich kaufe mir lieber ein Brot, als einen Dildo».» Der Internethandel habe dann die zweite Sterbewelle ausgelöst.Wer dabei geblieben sei, habe das oft aus einem gewissen Pragmatismus heraus getan - was man einmal anfange, führe man eben zu Ende, so Bretschneider. Das sei aber nur in eigenen Immobilien und meist mit einem Nebenerwerb möglich gewesen. Einige Läden grenzten etwa an Spielotheken, in Herzberg in Brandenburg betreibe jemand einen Sexshop und einen Fischhandel. Und auch die Wendeltreppe hinauf in die aktuellen Räumlichkeiten von Andreas Weidhaas beginnt in seiner Fellhandlung im Erdgeschoss.Die ungehemmten Zeiten sind mittlerweile vorbei. Kommendes Jahr will Weidhaas das Geschäft an den Nagel hängen. Inzwischen verirrten sich vielleicht noch drei bis vier Kunden pro Woche zu ihm, erzählt er. Vorwiegend ältere Herrschaften, manchmal aber auch junge Leute, die noch ein schnelles Geburtstagsgeschenk suchen. Sein Verkaufsschlager sei ein Standardvibrator. «Wir sind Provinz. Die Frauen wollen hier keine Vibratoren mit zwölf Stufen und drei Anbauten.» Aber eigentlich gehe es vielen um was ganz anderes: «Die Leute wollen einfach mal reden. Die haben niemanden, mit dem sie über ihre Vorlieben sprechen können.»Bildnachweis: © Bodo Schackow/dpaCopyright 2024, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten