9. Juni 2022 / Weltnews

Todesfahrt in Berlin - Fahrer kommt in die Psychiatrie

Das Auto wird zur tödlichen Waffe. Eine Frau stirbt, mehr als 30 Menschen werden verletzt. Der Fahrer soll nun in die Psychiatrie.

Zu den Opfern der tödlichen Fahrt in der Berliner Innenstadt gehört eine Schülergruppe aus Hessen - eine Lehrerin kam ums Leben.

In den Stunden nach der Todesfahrt in Berlin hatten sich die Hinweise verdichtet, nun ist die Staatsanwaltschaft sicher.

Eine psychische Erkrankung des Autofahrers hat nach Überzeugung der Ermittler dazu geführt, dass der 29-Jährige über Gehwege des Ku'damms und der Tauentzienstraße in Menschengruppen gerast ist.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann Mord in einem Fall und versuchten Mord in 17 Fällen vor und will ihn bis zum Prozess in einem psychiatrischen Krankenhaus unterbringen lassen. Besonders getroffen von der Tat ist eine Schulklasse aus Bad Arolsen, deren Fahrt in die Hauptstadt ein jähes Ende fand. Nach dem Tod der Lehrerin steht die kleine nordhessische Stadt unter Schock und bangt mit einem verletzten Lehrer und sieben Jugendlichen.

Paranoide Schizophrenie

Es gebe Anhaltspunkte dafür, dass der festgenommene Mann an einer paranoiden Schizophrenie leide, sagte am Donnerstag der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Sebastian Büchner. Bei der Durchsuchung der Wohnung des 29-Jährigen seien Medikamente gefunden worden. Der Beschuldigte habe seine Ärzte von der Schweigepflicht entbunden. Am Abend erließ das Amtsgericht Tiergarten den von der Staatsanwaltschaft beantragten Unterbringungsbefehl.

Bei der Todesfahrt am Mittwoch sei der Beschuldigte in zwei Menschengruppen gefahren, so Büchner. Er sei «bewusst mit einem Fahrzeug» in eine erste Gruppe von Menschen an der Ecke Ku'damm und Rankestraße sowie dann auf der Tauentzienstraße in eine Gruppe von Schülern und Lehrern gefahren. Es gebe keine Anhaltspunkte für einen terroristischen Hintergrund. «Aber auch ein Unfall wird sich vor diesem Hintergrund ausschließen lassen», sagte Büchner.

Bundes- und Landesregierung: Amoktat

Von der Bundes- und Landesregierung wurde der Vorfall als Amoktat eingestuft. Nach Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich auch Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (beide SPD) am Mogen entsprechend: «Das hat sich gestern Abend verdichtet», sagte Giffey im RBB-Inforadio. Durch die Ermittlungen der Polizei sei klar geworden, «dass es sich um die Amoktat eines psychisch schwer beeinträchtigten Menschen handelt». Auch Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) hatte sich am Mittwochabend bei Twitter so ausgedrückt.

Staatsanwaltschaft und Polizei nutzten den Begriff «Amoktat» hingegen zunächst bewusst nicht. Der Fall weckt auch Erinnerung an eine Amokfahrt auf der Stadtautobahn A100 im August 2020, als ein Autofahrer gezielt drei Motorradfahrer rammte. Er wurde vom Gericht in die Psychiatrie eingewiesen.

«Amok» geht auf das malaiische «amuk» zurück, das «zornig» oder «rasend» bedeutet. Mittlerweile dient «Amok» als erweiterter Begriff für jede blindwütige Aggression mit und ohne Todesopfer. Amokläufer sind meistens männlich und führen in der Regel ein eher unauffälliges Leben. Ursache ihrer Taten sind Forschern zufolge neben seelischen Erkrankungen häufig narzisstische Persönlichkeitsstörungen, aus denen Motive wie Wut, Hass und Rache resultieren.

Nach jüngstem Kenntnisstand habe der 29-Jährige in der Vergangenheit psychische Probleme gehabt, führte Innensenatorin Spranger im Abgeordnetenhaus, dem Landesparlament Berlins, aus. Der Mann armenischer Herkunft sei 2015 eingebürgert worden. Polizeilich sei er öfter aufgefallen, es habe Ermittlungen gegeben wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruchs und Beleidigung.

Über politische und extremistische Taten sei nichts bekannt. «Auch im Zusammenhang mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen ist der Tatverdächtige bisher nicht aufgefallen», so Spranger.

«Ganz entfernte Bezugnahme zum Bergkarabach-Konflikt»

Im Auto sei kein Bekennerschreiben gefunden worden. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wurden zwei handgeschriebene Plakate gefunden mit einer «ganz entfernten Bezugnahme zum Bergkarabach-Konflikt». «Nach derzeitigen Kenntnisstand steht das aber in keinerlei Beziehung zu dem Geschehen», sagte Behördensprecher Büchner.

Am Tatort lief unterdessen der Verkehr wieder normal. Sämtliche Absperrungen am Breitscheidplatz waren am Tag nach der Todesfahrt aufgehoben. Allerdings zeugten Markierungen wie etwa gelbe Farbkreise auf dem Gehweg von dem dramatischen Geschehen. Menschen haben Blumen und Kerzen niedergelegt.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) besuchte den Tatort zusammen mit Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik. Sie wolle die «tief empfundene Anteilnahme der Bundesregierung» vor allem mit den Angehörigen der toten Lehrerin und den verletzten Menschen ausdrücken, sagte Faeser. Sie dankte auch den Sanitätern, Notärzten und Polizisten, die in der schwierigen Lage nach der Tat halfen.

Der Ort befindet sich unweit der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg. Dort war im Dezember 2016 ein islamistischer Attentäter in einen Weihnachtsmarkt gefahren. Dabei und an den Spätfolgen starben 13 Menschen, mehr als 70 wurden verletzt. Fünfeinhalb Jahre später zog es den Berliner Egbert Schmidt zum Unglücksort. Er war nach eigenen Angaben damals auf dem Weihnachtsmarkt. «Das ist wie ein Déjà-vu», meinte er. «Als ich die Meldung las und die Gedächtniskirche eingeblendet war, dachte ich: Nee, schon wieder?»

«Es ist für uns ein ganz schwerer Tag»

Auch in Hessen erinnern Blumen und Kerzen an die Todesfahrt in Berlin. Sie liegen vor dem gelb-weißen Gebäude der Real- und Hauptschule im Ortskern der 16.000 Einwohner zählenden Kleinstadt Bad Arolsen. Hessens Ministerpräsident Boris Rhein und Kultusminister Alexander Lorz (beide CDU) besuchten die Schule. «Es ist für uns ein ganz schwerer Tag, und wir haben ganz schwere Herzen», sagte Rhein.

Schülerinnen und Schüler einer 10. Klasse und ihre Lehrer waren am Mittwochvormittag in der Nähe der Berliner Gedächtniskirche zu Fuß unterwegs, als das Auto in die Gruppe fuhr. Die Lehrerin starb, der Lehrer wurde lebensbedrohlich verletzt, sieben Jugendliche kamen schwer verletzt ins Krankenhaus. Insgesamt sprach die Berliner Staatsanwaltschaft nach jüngsten Angaben vom späten Nachmittag von insgesamt 32 Verletzten, 50 weitere seien psychologisch betreut worden.

Die Opfer, Angehörigen, Augenzeugen und Freunde an der Kaulbach-Schule werden von einem Team von Schulpsychologen betreut, wie das hessische Kultusministerium in Wiesbaden mitteilte. Fünf Mitglieder des Schulpsychologischen Kriseninterventionsteam (SKIT) an die nordhessische Schule gekommen. Eine Kollegin sei noch am Abend nach Berlin in das Hotel gefahren, in dem die Schülerinnen und Schüler untergebracht waren. Nach Angaben des Berliner Opferbeauftragten ist auch die landesübergreifende Hilfe angelaufen. «Das ganze Hilfssystem ist am Mittwoch hochgefahren worden», sagte Roland Weber der Deutschen Presse-Agentur.


Bildnachweis: © Fabian Sommer/dpa
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