29. Dezember 2023 / Weltnews

Tattoos nach Brustkrebs - Fast wie die eigene Brustwarze

Jeden Tag erhalten etwa 200 Frauen in Deutschland die Diagnose Brustkrebs. Doch auch wenn die Krankheit überstanden ist, bleiben oft Narben. Ein kleines Detail kann neues Wohlbefinden schaffen.

Tattoo-Künstler Andy Engel (r) tätowiert der Brustkrebspatientin Anja D. eine Brustwarze.

«Krass.» Mit diesem Wort und einem fast andächtigen Schweigen reagiert Anja D., als sie zum ersten Mal ihre neue Brustwarze im Spiegel sieht. Aus etwas Entfernung ist nicht zu erkennen, dass die linke Brustwarze nicht echt ist. Sie ist nicht einmal plastisch, sondern nur zweidimensional. Ein Tattoo.

Anja D. hatte 2021 Brustkrebs. Eine aggressive Form, wie sie erzählt. Es folgte Chemotherapie, die Brust wurde abgenommen. Im vergangenen Jahr ließ sich die 57-jährige Frau aus Aichach in Schwaben aus ihrem Bauchfett eine neue Brust formen. Doch wirklich wohl fühlte sie sich bisher nicht. «Früher hatte ich nie Probleme mit Nacktheit, aber jetzt schäme ich mich oft», sagt die Bürokauffrau. Die neue Brustwarze soll der Abschluss einer Leidensgeschichte sein. «Ich hoffe, damit einen Haken an die Geschichte setzen zu können.»

Für Anja D. ist die Warze nicht nur «die Kirsche auf dem Kuchen», wie sie selbst sagt, sondern sie komplettiere das Selbst wieder. Anja D. ist eine lebhafte und engagierte Frau. Sie fährt Harley, hat früher gemodelt, erzählt bildhaft auch von schwierigen Zeiten in ihrem Leben. Als sie das Tattoo das erste Mal sieht, wird sie jedoch plötzlich ruhig und entspannt. «Jetzt sieht es endlich wieder gleich aus. Das ist gut», sagt sie leicht seufzend.

Internationale Forschungsergebnisse

Laut einer Übersichtsarbeit italienischer Forscher ist die Brustwarzen-Rekonstruktion aus Sicht von Krebspatientinnen ein essenzieller Teil der Brustwiederherstellung. Komplikationen seien bei Tattoos relativ selten. «Patientinnen mit Brustwarzen-Rekonstruktion haben eine höhere allgemeine und ästhetische Zufriedenheit», schreiben die Autoren. Koreanische Wissenschaftler fanden in einer Studie heraus, dass Patientinnen mit Brustwarzentattoos besonders zufrieden sind. Laut australischen Forscherinnen hält die Zufriedenheit auch noch Jahre später an.

Gestochen werden die Tattoos teilweise von Ärzten, teilweise von Tattoo-Künstlerinnen und Künstlern. Anja D. hat ihr Tattoo beim Tattoo-Künstler Andy Engel im unterfränkischen Marktsteft (Landkreis Kitzingen) machen lassen. «Ich hatte im Netz Geschichten gelesen von Frauen, die bei Ärzten waren, die nur selten tätowieren. Das hatte mit natürlichen Brustwarzen teilweise nichts mehr zu tun», sagt Anja D. Zum Beispiel sei die Farbe eher grau gewesen. Daher wollte sie lieber jemanden, der sich mit Tattoos wirklich auskennt.

Eine künstliche Warze von einem Künstler

Das Tattoo-Studio von Engel ist wohnlich eingerichtet und winterlich dekoriert. An den in einem warmen Dunkelrot gestrichenen Wänden hängen Fotos und Bilder von Engel mit Rockmusikern, Bud Spencer, Familienmitgliedern. Eine gute halbe Stunde hat das Stechen gedauert. Die ganze Behandlung zwei bis drei Stunden. Zunächst machte Engel ein Foto der noch gesunden Brustwarze und fertigte anhand dessen eine Vorlage für die künstliche Warze.

Engel sticht zusammen mit einer Kollegin nach eigenen Angaben etwa 200 bis 250 Brustwarzen pro Jahr. «Die Idee dazu kam 2008 von einer Kundin», erzählt Engel. Eigentlich ist der 51-Jährige bekannt für fotorealistische Porträts von Menschen und Tieren. Auf einen Termin müssen Kundinnen und Kunden nach seinen Angaben mehrere Jahre warten. Aber Krebspatientinnen ziehe er vor.

Für die Brustwarzen-Rekonstruktion hat Engel eigens Farben entwickelt und bei Brustoperationen zugeschaut. Mehrere Tattoo-Künstlerinnern und -künstler deutschlandweit sowie in Österreich und der Schweiz arbeiten inzwischen nach seinem Prinzip. Nach dem Tattoo-Termin können die Frauen eineinhalb Jahre lang zum Nachstechen kommen. «So lang dauert es etwa, bis man vollständig sehen kann, wie die Farben wirken», sagt Engel.

Nicht alle Krankenkassen übernehmen die Kosten

Die knapp 2000 Euro bezahlt bei Anja D. die Krankenkasse. Laut dem Tattoo-Studio übernehmen 60 Prozent der Kassen die Kosten voll, 20 Prozent teilweise, 20 gar nicht. Anja D. hat für das Tattoo extra die Kasse gewechselt. Dass sie bei ihrer früheren Kasse auf taube Ohren stieß, ärgert sie sehr. «Brustkrebs ist kein Spaziergang durch den Garten», sagt sie. Neben den körperlichen Beschwerden habe das medizinische System sie sehr belastet. Oft sei sie Menschen begegnet, die ihr bereits abgestumpft erschienen. «Dann am Ende noch für das Tattoo kämpfen zu müssen, obwohl die Behandlung vorher so viel gekostet hat - das verstehe ich nicht», sagt die 57-Jährige.

Tattoos sind mehr als Kunst auf dem eigenen Körper

Für Anja D. ist die Brustwarze übrigens das zweite Tattoo. Ihren Oberarm ziert der Motor einer Harley Davidson. Tattoos allgemein haben oft nicht nur eine ästhetische Wirkung, sondern meist auch eine psychologische. Gerade bei Krebspatienten. Ein Tattoo kann ein Schritt sein, wieder Hoheit über den eigenen Körper und die eigene Lebensgeschichte zu bekommen, wie die Wissenschaftlerin Kristin Langellier in einem Buchkapitel mit dem Namen «You’re marked - Breast cancer, tattoo, and the narrative performance of identity» schreibt.

Tattoos allgemein können laut Studien die Bewältigung von schwierigen Lebensphasen erleichtern, etwa nach dem Tod eines geliebten Menschen oder nach Missbrauch. Demnach können Tattoos helfen, sich mit einem traumatischen Erlebnis auseinanderzusetzen und es in die eigene Lebensgeschichte einzubauen.

Brustwarzentattoos zählen dabei zu den sogenannten medizinischen Tattoos. Sie werden nicht nur nach Brustkrebs angewendet, sondern auch bei Transfrauen. Eine andere Form von medizinischen Tattoos ist es, Narben zu überstechen. Beispielsweise lassen sich nach Brustoperationen Narben mit Blumenranken zieren. Engel tätowiert auch Penisse von Transmännern (Penoiden genannt), damit sie die richtige Körperfarbe bekommen.

Anja D. ist einige Tage nach dem Tattootermin zufrieden mit dem Kunstwerk auf ihrer Haut. «Ich bin heilfroh, dass ich das gemacht habe», sagt sie.


Bildnachweis: © Karl-Josef Hildenbrand/dpa
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