3. Mai 2023 / Weltnews

Russlands Wissenschaft: Zwischen Flucht und Anpassung

Nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs haben Hunderte Russland verlassen. Wer geblieben ist, steht unter großem politischen Druck - Karriere machen jetzt vor allem Konformisten. Wie steht es um die Forschung?

Die Russische Akademie der Wissenschaft am Ufer der Newa in St. Petersburg.

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Bildung und Wissenschaft im größten Land der Welt weit zurückgeworfen. Die russische Führung hat durch ihren Krieg nicht nur Millionen Ukrainer zur Flucht gezwungen, sondern auch Hunderttausende gut ausgebildete Menschen aus Russland vertrieben.

«Solche Verluste hat das Land noch nie erlitten», klagte der Dekan der Wirtschaftsfakultät der Moskauer Lomonossow-Universität, Alexander Ausan. Um den Aderlass an menschlichem Kapital auszugleichen, seien mindestens sieben bis zehn Jahre nötig - «und auch das nur, wenn der Brain drain nicht weitergeht», sagte der renommierte Wirtschaftswissenschaftler.

Gelehrte fliehen aus dem Land

Zu den Fachkräften, die es ins Ausland gezogen hat, zählen IT-Spezialisten, Manager, Journalisten, aber auch Wissenschaftler und Dozenten. Allein das internationale akademische Netzwerk Scholars at Risk hat seit Kriegsbeginn mehr als 200 russische Forscherinnen und Forscher aus dem Land geholt. Die Humboldt-Stiftung hat sechs gefährdeten Wissenschaftlern nach Kriegsbeginn eine Förderung in Deutschland ermöglicht. Tausende namhafte Gelehrte haben darüber hinaus selbstständig die Flucht angetreten, weil sie mit dem Krieg nicht einverstanden waren, oder Angst haben mussten, für die Front mobilisiert zu werden.

Gegangen ist auch Maria Falikman, eine der renommiertesten Psychologinnen Russlands. Bis zum vergangenen Jahr lehrte und forschte sie an der Moskauer Higher School of Economics (HSE), doch im Sommer packte sie ihre Sachen und zog in die USA. «Ich fand es schwer, in Russland zu bleiben unter der verstärkten Propaganda und dem steigenden ideologischen Druck», sagte sie der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Allein aus dem Fach Psychologie sind vier der neun Laborleiter der HSE emigriert, «Leute, die auf internationalem Niveau gearbeitet haben und auch ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter haben sich in alle Richtungen zerstreut», sagt Falikman.

Finanzprobleme, Publikationsschwierigkeiten, Verfolgung

Der Exodus hat verschiedene Ursachen: So hat der Krieg tiefe Löcher in die Finanzierung gerissen, die Realausgaben für Wissenschaft und Forschung sind in diesem Jahr um ein Drittel gesunken. Erste Professoren klagen über verspätete Gehaltszahlungen. Die Anschaffung von Anlagen und Labormaterialien ist erschwert. Die Sanktionen isolieren russische Wissenschaftler zudem, die nun weder in internationalen Fachzeitschriften publizieren, noch auf die Ergebnisse ihrer Kollegen zurückgreifen können. Einige sind daher einfach wegen der fehlenden Perspektive in Russland ausgereist.

Andere fliehen vor realer Verfolgung und politischer Unterdrückung. Die HSE ist ein Musterbeispiel für den Einfluss der Politik. Seit ihrer Gründung 1992 galt sie als eine der liberalsten Universitäten Russlands und stieg dabei neben der altehrwürdigen Lomonossow-Uni auch zu einem der führenden Forschungsinstitute des Landes auf. Die Mitarbeiter waren stolz auf westliche Standards und internationale Wissenschaftskooperationen.

Doch im Fahrwasser des neuen politischen Kurses wurde auch die HSE zunehmend konservativer, eine Entwicklung, die 2021 mit der Ersetzung des langjährigen Rektors Jaroslaw Kusminow durch Nikita Anissimow noch forciert wurde. Anissimow unterschrieb als einer der ersten Wissenschaftler einen Unterstützerbrief für den Krieg. Als sich in der Hochschule Widerstand regte, wurden die Kritiker gefeuert.

Patriotismus ein Muss

Fast alle Wissenschaftsbereiche im Land sind betroffen. Gerade die Geisteswissenschaften, wo politische Standpunkte vertreten werden müssen, sind stark ausgedünnt. Wer nicht patriotisch genug lehrt und schreibt, muss nicht nur um seinen Job, sondern teilweise auch um seine Freiheit fürchten. Bücher kommen auf den Index, ganze Themenkomplexe werden tabuisiert, weil sich nun auch ein Gesetz zum «Verbot von Propaganda nicht traditioneller Werte» etwa auf Genderstudien oder Arbeiten zur Homosexualität auswirkt.

Andere Fachrichtungen bieten scheinbar noch die Möglichkeit eines unpolitischen Nischendaseins, doch auch hier gibt es Prioritäten und lauern Gefahren. So werden auch die Naturwissenschaften in den Dienst des Militärs gestellt. Die Regierung vergibt verstärkt Stipendien für rüstungsrelevante Forschungsprojekte. Anfang Februar zeichnete Präsident Wladimir Putin bei einem Empfang im Kreml etwa den Mitarbeiter eines militärischen Forschungsinstituts aus für «Erprobungstechnologien komplizierter technischer Geräte, die die Verteidigungsfähigkeit des Landes sicherstellen».

Vorwurf der Spionage

Auffällig ist auch eine verbreitete Angst, unter Spionageverdacht zu geraten, weil die Behörden vor Gelehrten nicht halt machen. 2022 wurden gleich drei Prozesse wegen angeblichen Geheimnisverrats gegen Wissenschaftler eröffnet. Der bekannte Physiker Dmitri Kolker wurde am Krankenbett von Geheimagenten verhaftet. Er soll bei Vorlesungen in China Staatsgeheimnisse verraten haben, obwohl die Vorträge vorher von den Sicherheitsorganen geprüft und abgenommen wurden. Kolker starb nur wenige Tage nach seiner Festnahme.

Zensur und eine wachsende Atmosphäre der Angst werden so zum Hindernis für echte wissenschaftliche Erkenntnisse. Karriere machen unter diesen Umständen nur noch Konformisten und Lobbyisten. So wurde im Herbst 2022 der Präsident der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAdW), neu bestimmt. Der kremlnahe Gennadi Krasnikow löste Amtsinhaber Alexander Sergejew ab.

Linientreue wie zu Sowjet-Zeiten

Der h-Index, der angibt, wie oft ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin von anderen Kollegen zitiert wurde, lag bei Sergejew bei 70, Krasnikow kommt auf ein Rating von 7. «Für den RAdW-Präsidenten sieht solch ein Wert nicht solide aus», meinte der Physiker Andrej Rostowzew.

Linientreue Überzeugungen sind wie zu kommunistischen Zeiten in der Sowjetunion oft wieder wichtiger als wissenschaftliche Expertise. Wozu das führen kann, zeigte zuletzt der Direktor des Genetikinstituts Alexander Kudrjawzew, der auch zur RAdW gehört. Bei einem Vortrag auf einer «wissenschaftlich-theologischen Konferenz» erklärte er, dass Menschen vor der Sintflut im Schnitt gut 900 Jahre alt geworden seien. Durch den Sündenfall der Menschheit seien die genetischen Krankheiten entstanden und die Lebenszeit des Menschen habe sich auf das jetzige Maß verkürzt. Kudrjawzew sorgte damit für breites Entsetzen auch unter Russen ohne höhere Bildung.


Bildnachweis: © Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa
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