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Der Bochumer Kriminologe Prof. Thomas Feltes hat den Polizeieinsatz in Dortmund kritisiert, bei dem ein Jugendlicher erschossen worden war. «Warum wurde dort eine Maschinenpistole eingesetzt? Das ist überhaupt nicht nachvollziehbar», sagte Feltes der Deutschen Presse-Agentur. Die Maschinenpistole (MP) sei vor allem für Amoklagen gedacht, nicht für Einsätze gegen psychisch auffällige Jugendliche. Das martialische Auftreten von elf Polizisten mit der automatischen Waffe mache sehr wohl einen Unterschied, weil es bei einem Menschen - vor allem wenn er kein Deutsch verstehe - den Eindruck eines Angriffs erwecke. «Bei solchen Einsätzen sollte immer ein Psychologe oder Psychiater dabei sein», sagte Feltes. Der Einsatz zeige zudem, dass Pfefferspray und Taser oft nicht die erhoffte Wirkung zeigen. Pfefferspray habe bei psychisch Kranken sogar einen paradoxen Effekt: «Sie empfinden das als unmotivierten Angriff und starten einen Gegenangriff. Es ist immer das gleiche Muster», so Feltes. Die Frage sei auch, ob die Beamten wussten, dass der Jugendliche kein Deutsch versteht. Solche Situationen seien am ehesten mit Worten beherrschbar. «Wenn der Betroffene nichts versteht, ist ein Angriff programmiert.» Die Polizei in der Dortmunder Nordstadt, einem sozialen Brennpunkt, sei «nicht gerade für Zurückhaltung bekannt», sagte Feltes. Er kritisierte, dass in den Köpfen der Polizisten die Maxime fest verankert sei, «das Problem jetzt und sofort zu lösen». In solchen Fällen sei es aber oft besser, die Lage zu stabilisieren und sich, wenn möglich, zurückzuziehen, sagte der Kriminalitätsforscher.Dortmunder Fall noch lange nicht aufgeklärtDer in Dortmund von einem Polizisten erschossene Jugendliche, ein unbegleiteter Flüchtling aus dem Senegal, war kurz vor der Tat in einer Psychiatrie. Er habe sich wegen psychischer Probleme selbst dorthin begeben, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Dortmund am Mittwoch. Zuvor hatte die «Bild» darüber berichtet. Im Fall des getöteten 16-Jährigen sind noch viele weitere Fragen ungeklärt: Wie kann es sein, dass eine Drohung oder ein Angriff mit einem Messer mit mehreren Schüssen aus einer Maschinenpistole erwidert wird? Unabhängig von dem Dortmunder Fall sagte Frank Schniedermeier aus dem Vorstand der Gewerkschaft der Polizei NRW, Messerangriffe gehörten zu den gefährlichsten Angriffen auf Polizisten: «Wenn Arterien getroffen werden, verblutet man innerhalb weniger Minuten.» Laut LKA gab es in NRW 2020 mehr als 50 Messerangriffe auf Polizisten.Gefahrensituationen entwickelten sich oft innerhalb von Sekunden, sagte Schniedermeier. Rückzug und den Rücken zudrehen ist demnach meist nicht möglich - schließlich hätte man dann den Straftäter nicht mehr unter Kontrolle. Messerangriffe müsse man auf Distanz abwehren. Wenn ein Täter erst einmal neben einem stehe, habe man keine Chance mehr, sagte der Polizeigewerkschafter. Bei einem Angriff habe man nur Sekundenbruchteile für eine Entscheidung. Bleibt noch Zeit, soll ein Warnschuss abgegeben werden - ansonsten müsse man so schießen, dass das Gegenüber «angriffsunfähig» sei, erklärte Schniedermeier.Polizei gegen Polizei: Andere Dienststelle führt ErmittlungenGegen den Beamten, der die Schüsse abgab, wird nun wegen Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt. Steht bei Polizisten eine Straftat im Raum, werden die Ermittlungen nicht von den Kollegen in der eigenen Behörde, sondern «aus Neutralitätsgründen» in einer anderen Dienststelle geführt.In Nordrhein-Westfalen gibt es nun eine bemerkenswerte Situation: Gleichzeitig ermitteln zwei Polizeibehörden in Fällen, in denen die jeweils andere Behörde involviert war - also quasi «gegeneinander». Das NRW-Innenministerium hält eine neutrale Ermittlungsführung dennoch für sichergestellt.Im Fall des am Montag in Dortmund bei einem Polizeieinsatz getöteten, mit einem Messer bewaffneten Jugendlichen ist die Polizei Recklinghausen zuständig. Der 29-Jährige, der sechsmal mit der Maschinenpistole auf den Jugendlichen schoss, wird als Beschuldigter geführt. Die Dortmunder Polizei ermittelt wiederum wegen eines Falles in der Zuständigkeit der Recklinghäuser: Dort war am Sonntag ein 39-Jähriger gestorben, nachdem er in einer Wohnung randaliert und massiv Widerstand geleistet haben soll und von der Polizei fixiert wurde. Es gibt aber auch Anhaltspunkte, dass er unter Drogen stand.Das NRW-Innenministerium erklärte auf Nachfrage, Straftaten gegen im Landesdienst Beschäftigte würden in bestimmten Polizeipräsidien, den Kriminalhauptstellen, verfolgt. Arbeitet die beschuldigte Person aber selbst dort, ist «aus Neutralitätsgründen» eine andere Kriminalhauptstelle zuständig. Hier gibt es feste Kooperationen: Recklinghausen ist immer für Dortmund zuständig und umgekehrt, das gleiche gilt für Köln und Bonn oder Duisburg und Düsseldorf.Ministerium sieht «neutrale Ermittlungsführung sichergestellt»Auf die Nachfrage, ob die Neutralität bei einer andauernden gegenseitigen Zuständigkeit nicht gefährdet sei, betonte ein Sprecher des Innenministeriums, die Ermittlungsverfahren würden ausschließlich unter Sachleitung der zuständigen und «zur Objektivität, Neutralität und Unparteilichkeit verpflichteten Staatsanwaltschaft» geführt. Die Regelung garantiere zudem, dass Polizeibehörden in keinem Fall gegen Beschäftigte der eigenen Behörde ermittelten. «In der Gesamtschau ist eine neutrale Ermittlungsführung insoweit in allen Fällen sichergestellt», hieß es.Das sehen nicht alle so: «Das ist nicht "neutral" und schon gar nicht vertrauensfördernd», schrieb etwa der Twitter-Nutzer Aladin El-Mafaalani. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) forderte die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen. Rafael Behr von der Akademie der Polizei Hamburg sagte dem WDR: «Wir fordern schon lange einen Polizeibeauftragten, der nicht im Hierarchiesystem der Polizei verortet ist, aber Ermittlungskompetenz hat.» Der Kriminologe Thomas Feltes plädierte dafür, für polizeiinterne Ermittlungen nach Einsätzen wie diesen eine eigenen Stelle etwa beim Landeskriminalamt zu schaffen.NRW-Polizei verwendet Maschinenpistolen vom Typ MP5Die Polizei in Nordrhein-Westfalen verwendet Maschinenpistolen vom Typ MP5 von Heckler und Koch. Diese gehören in allen Streifenwagen zur Ausrüstung. Schniedermeier sagte, es gebe regelmäßig Schießtrainings mit allen bei der Polizei eingesetzten Waffen.Laut einer Statistik des auf polizeilichen Schusswaffengebrauch spezialisierten Professors an der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit, Clemens Lorei, setzten Polizisten in Deutschland 2020 insgesamt 159 Mal die Waffe gegen Personen ein. 49 davon waren Warnschüsse. In dem Jahr starben demnach 15 Menschen an den Folgen von Polizeischüssen, 41 wurden verletzt. In NRW starben laut Innenministerium 2021 drei, 2020 vier und 2019 fünf Menschen.Am Dienstagabend fand in Dortmund eine Demonstration gegen Polizeigewalt statt. Sie sei emotional, aber friedlich verlaufen, teilte die Polizei mit. Etwa 150 bis 200 vor allem junge Menschen hätten teilgenommen.Bildnachweis: © Bernd Thissen/dpaCopyright 2022, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten