4. Mai 2023 / Weltnews

Kind erstickt 1988 in Sack: Neuer Prozessbeginn

Das Schicksal eines Vierjährigen erschüttert auch Jahrzehnte nach dessen Tod. Eine mutmaßliche Sektenführerin muss sich nun zum zweiten Mal wegen Mordes vor Gericht verantworten.

Im Landgericht in Frankfurt am Main wird ein Mordfall erneut verhandelt.

Was genau geschah an einem heißen Augusttag in Hanau im Jahr 1988? Warum starb ein vierjähriges Kind? Und wie steht es um die Schuldfähigkeit der heute Angeklagten?

Knapp 35 Jahre nach dem Tod eines kleinen Jungen steht eine mutmaßliche Sektenführerin zum zweiten Mal wegen Mordes vor Gericht. Die 75-Jährige wurde bereits im September 2020 vom Landgericht Hanau zu lebenslanger Haft verurteilt - doch der Bundesgerichtshof kassierte das Urteil im Zuge der Revision. Zuständig ist jetzt das Landgericht Frankfurt am Main.

«Alles ist offen», erklärte der Vorsitzende Richter zum Prozessauftakt am Donnerstag. «Wir haben eine komplett neue Beweisaufnahme durchzuführen.» Die grauhaarige Angeklagte, die eine übergroße Jacke und eine Corona-Maske unter ihrer Nase trug, schien dem Richter aufmerksam zuzuhören, die formellen Fragen zu ihrer Person beantwortete die ehemalige Krankenschwester mit dünner Stimme.

Was damals passierte

Wie in einem üblichen Verfahren wurde nach Abwicklung der Formalien aus dem ursprünglichen Anklagesatz verlesen: Demnach soll die heute 75-Jährige den Jungen in den Mittagsstunden des 17. August 1988 «aus niedrigen Beweggründen und grausam» getötet haben.

Der Vierjährige befand sich demnach in ihrer alleinigen Obhut. Laut der Anklage schnürte die Frau das Kind vollständig in einen Leinensack ein, brachte es in ihr Badezimmer zum Mittagschlaf - und überließ es demnach seinem Schicksal. Die mutmaßliche Sektenführerin soll in dem Jungen eine «Reinkarnation Hitlers» und ihn als «von den Dunklen besessen» angesehen haben.

Der Anklage zufolge hatte die Frau trotz einer Außentemperatur von 32 Grad die Luftzufuhr verringert und das Fenster geschlossen. Auf Schreie des Jungen soll sie erwidert haben, er könne das «Schaugebrüll» sein lassen, alle seien fort. Sie gehe nun raus in den Garten, «es hört dich keiner». Der Vierjährige sei nach einem «erbitterten Todeskampf» gestorben und die Frau habe ihr niederträchtiges Ziel erreicht, hieß es.

Das Kind soll an seinem Erbrochenen erstickt sein. Jahrzehntelang waren Polizei und Staatsanwaltschaft von einem Unfall ausgegangen, bis Sektenaussteiger 2015 ein neues Licht auf den Fall warfen und es schließlich zum ersten Prozess vor dem Landgericht Hanau kam.

Kein einfacher Prozess

Der Bundesgerichtshof kritisierte jedoch die damalige Verurteilung: So sei die Schuldfähigkeit der Angeklagten nicht ausreichend geprüft worden. Darüber hinaus fehlten Angaben zu einem Tatvorsatz, wie es hieß. Man wisse nicht, was in ihr zum Tatzeitpunkt tatsächlich vorgegangen sei. Auch heute im Gerichtssaal blieb völlig unersichtlich, was die Frau bei der Verlesung des Anklagesatzes dachte.

Für die Prozessbeteiligten wird das Verfahren keine einfache Aufgabe. «Das Besondere ist natürlich, dass alles so lange her ist», sagte die Frankfurter Staatsanwältin Miriam Haßbecker. Es seien «viele Jahre, die zurückliegen und die eine Beweisführung schwierig machen - weil Zeugen nicht mehr aussagen können, nicht mehr aussagen wollen oder einfach nicht mehr aufzutreiben sind». Die Staatsanwaltschaft geht aber davon aus, dass weiter ein dringender Tatverdacht besteht.

Die Verteidigung kündigte derweil ein Statement für den nächsten Prozesstag in der kommenden Woche an. Vielleicht wird sich die 75-Jährige dann auch selbst äußern.


Bildnachweis: © picture alliance / dpa
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