24. Juni 2024 / Weltnews

«Da ist die Hölle los» - Wissenschaftler stehen im Shitstorm

Corona, Klimawandel, Tempolimit: Es gibt Themen, da löst selbst die wissenschaftlich fundierteste Feststellung Hass und Hetze aus. Manche Forschende werden mit dem Tod bedroht. Wie geht man damit um?

Forschende aus allen Fachrichtungen sind von Anfeindungen betroffen.

Als ihn ausgerechnet der bayerische Vize-Ministerpräsident auf X als «Bub» bezeichnete, nahm Klimaforscher Christian Scharun es mit Humor: Er setzte ein Häkchen hinter den Bucket-List-Eintrag «Von Hubert Aiwanger beleidigt werden» und kommentierte, es sei immer noch «uncool, andere Menschen anhand ihres Geschlechts, Alters oder Aussehens, anstatt nach ihren Inhalten und Taten zu beurteilen». 

Über Kommentare zu seinem jugendlichen Aussehen sehe er hinweg, sagt der 31-Jährige. Doch er wurde auch schon als «Klimajünger» beleidigt und als «Faschist», wie er sagt. «Halt dein dummes Maul» gehöre noch zu den harmlosen Kommentaren. «Ich könnte täglich eine Handvoll Anzeigen erstatten», sagt der ehemalige Forscher am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), der heute für die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim arbeitet. 

Wie Scharun geht es vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Posten sie etwas im Internet, hagelt es Kritik, Beleidigungen, manchmal Morddrohungen. Eine Kollegin habe mal leicht ironisch gesagt, es sei erst eine Todesdrohung dabei gewesen. «Das ist doch bitter, wenn dass das Positive sein soll», sagt Scharun. Viele Forschende kommunizierten lieber gar nicht erst öffentlich, um Shitstorms zu entgehen. «Es kann aber doch nicht das Ziel sein, dass sich am Ende nur die mit harter Schale äußern.»

Beleidigungen und Anfeindungen ernstes Problem

Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) hat im Mai Ergebnisse einer repräsentativen Befragung veröffentlicht, nach der 45 Prozent der Forschenden in irgendeiner Form Wissenschaftsfeindlichkeit erlebt hat. Tendenz: steigend. 

Zwar gab es Kritik, die Studie zähle zu Wissenschaftsfeindlichkeit auch «herablassende Äußerungen» und eine «unangemessene Reaktion auf wissenschaftliche Erkenntnisse in öffentlichen Diskussionen». Doch an der Quintessenz gibt es wohl nichts zu rütteln: «Anfeindungen gegen Forschende sind ein ernstes Problem.»

Und das nicht nur, wenn sie - wie in Corona-Zeiten der Virologe Christian Drosten - in den Fokus der Öffentlichkeit und damit der öffentlichen Debatte rücken. Auch weitgehend unbekannte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind betroffen, wie Scharun sagt.

Nach Vorträgen kämen eher selten Menschen zu ihm und äußerten Kritik - «meist nicht freundlich, aber friedlich». In sogenannten sozialen Netzwerken aber, «da brennt der Baum». «Tempolimit ist ein Garant für Shitstorms», sagt Scharun. «Da ist die Hölle los.» Aber auch mit Beiträgen zum Klimawandel löst er regelmäßig Fluten an Reaktionen aus. «Da kann ich davon ausgehen, dass sich innerhalb weniger Stunden die gesamte Meute versammelt.»

Neben falschen Behauptungen von Klimawandelleugnern und Beleidigungen gehe es schnell nicht mehr um die Sache, sondern um Themen wie Corona, Russlands Krieg in der Ukraine und den Gaza-Konflikt. Scharun spricht von «Bullshit-Bingo». Ein Klassiker, vor allem seit er für die aus dem ZDF bekannte Nguyen-Kim und «Terra X» arbeitet: Was er für die Öffentlich-Rechtlichen erzähle, werde «von oben» diktiert, er sei eine «Marionette der Eliten».

Hilfe für Betroffene

Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die von Anfeindungen, Drohungen oder Hass-Nachrichten betroffen sind, gibt es Hilfsangebote. Im Netzwerk für kommunizierende Forschende («WissKon») können sie sich über einen sogenannten «Mayday-Button» Unterstützung holen. Der Bundesverband Hochschulkommunikation und die Organisation Wissenschaft im Dialog haben im vergangenen Jahr zudem die Initiative «Scicomm-Support» ins Leben gerufen, eine Online-Plattform samt Telefonnummer für persönliche Beratung.

Anders als erwartet konzentriert sich die Arbeit nicht nur auf Bereiche, in denen zu aktuell gesellschaftlich relevanten und kontroversen Themen wie Klimawandel, Forschung mit Tierversuchen, Gender- und Diversityforschung gearbeitet wird. «Tatsächlich kommen die Anrufe aber aus dem gesamten wissenschaftlichen Fächerspektrum», teilte das Team mit und nannte als Beispiele auch Theologie, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. 

Seit Beginn beraten die Fachleute demnach unter anderem einen Professor, den eine Person seit acht Jahren beschimpft, bedroht, verfolgt – bis hin zu einem körperlichen Angriff in der Stadt. Bei öffentlichen Veranstaltungen sei ein Sicherheitsdienst dabei. 

«Desinformation ist auch eine Waffe»

Scharun tauscht sich in einer kleinen Community aus. «Da schicken wir uns auch mal die dümmsten Kommentare.» Auf X verzichten will er nicht. Dort könne er viele Menschen erreichen, zumal es in der Wissenschaft durchaus genug Anlass zu sachlichen Diskussionen gebe. Seit Juli 2021 ist er überhaupt erst auf der Plattform, nach einem Sieg bei einem Wissenschafts-Wettbewerb. Inzwischen hat er mehr als 16.500 Follower.

Und er hat sich eine Strategie zurechtgelegt: Accounts mit wenigen Followern antwortet er gar nicht erst. Wenn er auf die großen Fake-News-Verbreiter mit Tausenden Anhängern reagiere, sei das zwar in 99 Prozent vermutlich auch vergebene Liebesmüh, räumt Scharun ein. «Aber vielleicht erwische ich doch einen Mitleser oder eine Mitleserin.» Doch auch das koste viel Zeit: «Es ist viel leichter, Bullshit zu verbreiten, als Bullshit richtigzustellen.»

Zudem nutze er inzwischen mehr Zeit zum Aufklären, wie Falschinformationen verbreitet werden - wenn etwa Zitate von Nobelpreisträgern aus dem Kontext gerissen werden. Auf X wünscht Scharun sich mehr Regeln wie eine Pflicht zu Quellenangaben. Früher seien häufiger Accounts gesperrt worden, sagt er. Heute fände er es gut, wenn es zumindest Warnungen gäbe, dass ein Account höchstwahrscheinlich Fake News verbreite. «Natürlich sollte man prinzipiell alles sagen dürfen», sagt Scharun. «Aber Desinformation ist auch eine Waffe.»


Bildnachweis: © Hendrik Schmidt/dpa
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