17. Mai 2023 / Weltnews

«Es wimmelt nur so von Storchendörfern»

Einst gab es im Dorf ein Storchennest, und auf das war man stolz. Inzwischen gibt es Dörfer mit Dutzenden Nestern - mit teils kuriosen Folgen. Wie kommt das? Und was sagen Bewohnerinnen und Bewohner dazu?

Ein Storch startet aus seinem Horst: «Wenn ein großer Populationsdruck da ist, können an günstigen Standorten Kolonien entstehen.»

Gleich am Ortseingang warnt ein Schild: «Achtung! Störche im Tiefflug!» Das ist zwar ein bisschen scherzhaft gemeint mit Blick auf die Touristen, die wegen der vielen Störche in das Dorf Uehlfeld kommen. Doch schon wenige Meter weiter sieht man, dass die Warnung nicht von ungefähr kommt. Überall auf den Dächern klappern die Weißstörche.

Allein auf dem Kirchturm haben sie fünf Nester gebaut. Immer wieder segelt einer der weiß-schwarzen Vögel majestätisch von Dachfirst zu Dachfirst - und dabei quer über die Bundesstraße, die sich mitten durch den Ort zieht.

«Wir haben im Augenblick 53 Horste», sagt Detlef Genz, Bürgermeister der rund 3000-Einwohner-Gemeinde im Norden Bayerns. «Meines Wissens so viel wie in keinem anderen Ort in Deutschland.» Mit Sicherheit lässt sich das allerdings nicht sagen. Aber das seien schon sehr viele, sagt auch der Storchenexperte Kai-Michael Thomsen vom Michael-Otto-Institut des Naturschutzbunds Deutschland (Nabu) in Bergenhusen. Die Gemeinde in Schleswig-Holstein hat mit 25 Nestern selbst eine größere Kolonie, kommt aber gerade mal auf knapp 730 Einwohner.

Bundesweit rund 10.000 Storchenpaare

Einst war der Weißstorch in Deutschland fast ausgestorben. Inzwischen brüten Thomsen zufolge bundesweit rund 10.000 Storchenpaare. In den vergangenen Jahren habe die Population im Westen Deutschlands stark zugenommen, sagt Thomsen. Die storchenreichsten Bundesländer seien Baden-Württemberg und Niedersachsen. Im Osten seien die Bestände dagegen allenfalls stabil, in Mecklenburg-Vorpommern sogar rückläufig. Und diese Entwicklung habe Folgen: «Wenn ein großer Populationsdruck da ist, können an günstigen Standorten Kolonien entstehen.»

So wie in Uehlfeld. Gerhard Bärtlein, 74 Jahre, ist mit den Störchen aufgewachsen. Er kann sich noch an Zeiten erinnern, wo sich kein Storch blicken ließ. Doch seit Jahren werden es immer mehr - auch auf seinem Grundstück. Fünf Storchpaare brüten derzeit auf seinen Dächern. Wahrscheinlich wären es noch viel mehr, wenn er den Nestbau an ungeeigneten Stellen nicht in einem frühen Stadium unterbunden hätte. «Vielleicht hat es sich in der Storchenwelt herumgesprochen, dass es sich in Uehlfeld gut lebt?», mutmaßt er.

Wissenschaftlich ist das Verhalten der Störche schwer zu untersuchen, deshalb können Fachleute nur Vermutungen anstellen. «Das ist eine ganz verrückte Sache», sagt Wolfgang Fiedler vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell am Bodensee. In den ersten Jahren werde ein Brutpaar alles versuchen, um sein Revier zu verteidigen. «Doch wenn eine bestimmte Dichte erreicht wird, ist es, als wenn ein Hebel umgelegt wird. Aber was da genau passiert zwischen Aggression und Koloniebildung ist nicht ganz klar.» Ein ähnliches Verhalten sei bei Höckerschwänen auf der Themse in London beobachtet worden.

Verändertes Zugverhalten

Die zunehmende Koloniebildung bei Störchen könnte nach Ansicht von Fiedler auch mit dem veränderten Zugverhalten zusammenhängen. Die Zahl der Störche, die über die Westroute in die Winterquartiere fliegen, habe zugenommen. Etwa zwei Drittel von ihnen fliege gar nicht mehr bis nach Afrika, sondern überwintere großteils in Spanien, wo auf Mülldeponien ausreichend Nahrung zu finden sei. Diese Störche haben deshalb viel bessere Überlebenschancen als die Ostzieher, die viele Tausend Kilometer mehr - zum Teil bis Südafrika - zurücklegten.

«Seit die Westzieher zunehmen, wimmelt es nur so von Storchendörfern», sagt Fiedler. Vor allem im Süden und Südwesten Deutschlands seien Dörfer mit mehr als zehn Storchenpaaren keine Besonderheit mehr. Und das könnte Auswirkungen auf die Rückkehr der Störche nach Deutschland haben, vermutet er. Die Westzieher, die eine kürzere Strecke zurücklegen müssten, könnten schon ab Mitte Februar auf dem Nest sitzen. «Wenn die Dichte steigt, ist der Druck größer, früher zurückzukehren. Wer zuerst auf dem Nest sitzt, hat immer Vorteile.»

Den Tourismus haben die Störche in Uehlfeld beflügelt: Ausflügler und Hobby-Vogelkundige sind begeistert, manche Anwohner dagegen weniger. Selbst Gerhard Bärtlein, der ein großes Herz für Störche hat, wie er selbst sagt, meint: «Es reicht mittlerweile.» Denn wenn sich die Vögel einmal für einen Standort entschieden hätten, sei es gar nicht so leicht, sie davon wieder abzubringen. Problematisch sei das vor allem, wenn sie Nester auf beheizten Kaminen oder an Oberkanten von Solaranlagen bauten, sagt die Biologin Oda Wieding vom Landesbund für Vogel- und Naturschutz in Bayern.

So legten Störche vor drei Jahren in Uehlfeld die kleine Brauerei des Brauereigasthofs Zwanzger lahm, weil sie auf deren Schornstein brüteten. Ein anderes Mal sei der Kamin des Gasthofs blockiert gewesen, erzählt Chefin Susanne Zwanzger - und sie habe im März die Heizung abstellen und die Gäste hätten frieren müssen.

Feuerwehreinsatz wegen Storchennest

Im etwa 100 Kilometer entfernten Dinkelsbühl lösten Störche im vergangenen Jahr sogar einen Feuerwehreinsatz aus: Nach Angaben der Stadt funktionierte in einem Museum wegen eines Storchennests auf dem Kamin der Abzug nicht und die Kohlenstoffmonoxid-Belastung stieg. Die Feuerwehr entfernte daraufhin aus Sicherheitsgründen einige Nester in der Altstadt.

Mit solchen Problemen werde man künftig verstärkt umgehen müssen, prognostiziert Nabu-Experte Thomsen. In Uehlfeld habe man sich im Großen und Ganzen mit den Störchen arrangiert, meint Bürgermeister Genz. «Sehr viele - und ich glaube die meisten - erfreuen sich immer wieder an dem Anblick der Störche.» Außerdem könne die Kolonie nicht immer weiter wachsen, meint er. «Das regelt sich ganz natürlich.» Das bestätigt auch Thomsen: «Irgendwann ist die Konkurrenz so groß, dass es vermehrt zu Kämpfen kommt und sich die Störche die Eier gegenseitig aus dem Nest werfen, oder der Stress in der Kolonie führt dazu, dass der Bruterfolg nicht so groß ist.»


Bildnachweis: © Daniel Karmann/dpa
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